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TCE-Blog

21. September 2016 · Erfahrungsbericht

Mut beweisen

Bericht Nr. 2 zu Therapieausflügen – von Simone Schiele

Im Januar, das TCE steckte mitten im Umzug von Milbertshofen nach Neuhausen, die untere Etage mit den Büro- und Therapieräumen ware von den Umzugsleuten schon leer geräumt. Ein Teil des Teams war in der Lachnerstrasse beschäftigt; der andere Teil hielt in der Hanselmannstrasse gemeinsam mit den PatientInnen, die dort noch in ihren WGs wohnten, die Stellung. Mittwochvormittag: Verhaltenstherapie-Gruppenzeit.

Aufgrund der Begebenheiten hatte ich im Vorfeld einen Ausflug für dieses Zeitfenster mit den PatientInnen geplant. Universität, Weiße Rose Ausstellung. Frau Kaufmann, historische Mitarbeiterin der Stiftung, empfing uns und machte gemeinsam mit uns eine Führung durch die damalige Zeit des Widerstands im 3. Reich. An Ort und Stelle des damaligen Geschehens wurde diese Geschichte ganz anders erfahrbar, als es bisher im Schulunterricht, im Fernsehen oder durch Bücher erlebt wurde. Wir standen in der Aula der Universität und blickten nach oben, von wo aus Sophie Scholl Flugblätter hatte hinuntersegeln lassen, bevor sie und ihr Bruder von dem Hausmeister festgehalten und später von der Gestapo abgeführt worden waren. Wir waren betroffen; meine PatientInnen waren still. Im anschließenden Austausch reflektierten sie: die Mitglieder der Weißen Rose waren im gleichen Alter wie sie es nun sind. Eine völlig andere Zeit: da wo diese jungen mutigen Menschen damals für Freiheit und gegen Unrecht gekämpft haben, haben junge Leute in der heutigen Zeit alle Freiheit, um quasi alles tun zu können, und erleben gerade das oftmals als schwierig. Welche Werte habe ich heute, wenn alles möglich ist und nichts mehr erkämpft werden muss? Wie gehe ich heute mit Orientierungslosigkeit und den damit einhergehenden Ängsten um? Wie mutig möchte ich mich in meinem Leben positionieren? Wo und wie möchte ich etwas wagen? Wieder einmal staunte ich über meine PatientInnen und ihre Gedankengänge.

Zweiter Teil des Ausflugs. Eine Woche vorher hatte ich mir von den PatientInnen klar gewünscht, dass wir im Anschluss an den Besuch der Ausstellung gemeinsam in ein Lokal zum Mittagessen gehen. Viel Skepsis, Unsicherheit, Widerstand; letztendlich jedoch entschieden sie sich für dieses Wagnis. (Ein paar PatientInnen waren noch nicht lange im TCE. Daher die Befürchtung, dass ein Essen außerhalb sie überfordern könnte.) Vorab erklärte ich, dass ich es sinnvoll fände, das jeweils bestellte Essen ganz aufzuessen, egal, ob die Menge einer Portionsgröße A,B oder C entspricht, und dass sie bitte keinen Salat als Hauptmahlzeit bestellen sollten. Auf dem Weg von der Weißen Rose in das Studentenlokal nahm mich eine therapieältere Patientin zur Seite und machte mich darauf aufmerksam, dass meine Vorgaben sicherlich zu einigen Krisen bei den anderen führen würden; sie mit eingeschlossen. Ich zeigte mich verständnisvoll; blieb jedoch bei meinen Vorgaben. Und siehe da: ruck zuck entschied sich jede Patientin und bestellte ihr eigenes Gericht - UND aß es in angemessener Zeit auf. Die Teller waren leer, die Stimmung war, trotz Völlegefühl bei einigen, gut.
Ich war stolz auf meine Truppe.

Bildnachweis: istockphoto.com/gpointstudio

Über die Autorin

Simone Schiele hat Psychologie in Bonn und Salzburg studiert und ist seit 2008 als approbierte psychologische Psychotherapeutin im TCE tätig. Als Bezugstherapeutin begleitet sie in Einzeltherapie ihre PatientInnen. Sie leitet derzeit die Fertigkeitengruppe und fördert dabei den Umgang mit Gefühlen, den  Aufbau von sozialen Fertigkeiten, den Abbau von Anspannungszuständen und die Entwicklung von Achtsamkeit. Neben ihrer Teilzeittätigkeit im TCE leistet sie zuhause Familienarbeit. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich gerne mit ihrer Familie und ihren Freunden, sowie mit Yoga, Literatur, Filmen und Theater.