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08. September 2021 · Erfahrungsbericht

Ein Tag in der Krankheit - gestern und heute

Das Sonnenlicht scheint durch den Spalt zwischen Rollo und Fenster direkt in mein Zimmer. Ich habe Angst vor Sonne. Sonne bedeutet, dass ich rausgehen muss. Rausgehen bedeutet spazieren gehen. Nein, falsch, joggen. Nennen wir es beim Namen.

Ich kann nicht. Ich schaue auf den Wecker, mein Herz pocht immer schneller. Es ist kurz vor sieben, höchste Zeit aufzustehen, um mich für den Online-Unterricht vorzubereiten und zu frühstücken. Ein neuer Tag voller Schmerz, Angst und Kampf. Ein Kampf, den ich einfach nicht gewinnen kann, so sehr ich es auch will. Im Kopf gehe ich noch einmal durch, was ich heute alles tun muss.

Videokonferenzen, zwischendurch die Arbeitsaufträge erledigen und ganz wichtig immer wieder zwischenzeitlich Work-outs einbauen, damit meine Kondition durch das viele Daheimsein nicht ganz im Eimer landet. Dann noch rausgehen, zum Edeka joggen, einkaufen, zurückjoggen, auspacken und saugen. Immerhin muss ich Mama ja irgendwie eine Hilfe sein, wenn ich schon zuhause meinen Arsch plattdrücke und nur lerne, ansonsten nichts tue, während sie sich in der Arbeit die Finger wundschuftet. Definitiv werde ich auch schon für sie gekocht haben, wenn sie heimkommt, das ist ja wohl das Mindeste. Ich bin so eine Versagerin. Und eine faule Sau. Und eine grauenhafte Tochter. All diese Gedanken kreisen in meinem Kopf, drücken mir die Tränen in die Augen, nehmen mir die Luft zum Atmen.

„Heul nicht rum", schimpfe ich mich voller Selbsthass, „du hast es nicht verdient traurig zu sein. Du musst stark sein. Du darfst nicht schwach werden. Steh auf und mach ein paar Kniebeugen. Und Liegestützen, das lenkt dich ab. Aber bloß nicht weniger als fünf! Am besten zehn, das ist eine gerade Zahl."

Diese Gedanken vertreiben die anderen, lenken mich ab, sodass ich mich nicht mehr damit beschäftigen muss, wie schrecklich ich bin. Aber eigentlich weiß ich das ja ohnehin schon. Weil es so ist.
Bevor ich noch tiefer in diesen Strudel gerate, springe ich auf, mache Kniebeugen. Zehn auf der Fensterseite, zehn auf der Wandseite, zehn links, zehn rechts. Und noch Liegestützen...

Meine Muskeln zittern, mein Herz klopft wie verrückt, ich spüre wieder die Tränen in mir aufsteigen, weil ich weiß, dass es falsch ist, was ich tue. Dass das nicht ich bin, sondern etwas Dunkles in mir, das mich vereinnahmt hat, ohne, dass ich es bemerkt habe und das ich jetzt nicht mehr loswerde. Aber ich weiß ja nicht einmal, wer ich überhaupt noch bin.

Die Stimme ist zu laut, übertönt alles. Mein Gefühl, meine Angst, meinen Schmerz. Redet mir Befriedigung ein, weil ich etwas geleistet habe, das schier unmöglich war. Ich hatte keine Kraft und konnte mich trotzdem über meinen Körper hinwegsetzen, ihn besiegen. Ans Limit gehen. Wenigstens das, wenn ich schon sonst nichts kann.

Auf dem Flur höre ich Schritte, eile hastig zum Fenster und tue so, als würde ich die Rollläden hochziehen. Mama steht in der Tür. Sie muss gleich zur Arbeit. Ihr Gesichtsausdruck sagt mir, dass sie ganz genau weiß, was ich getan habe. Und ich weiß, dass es falsch war, bekomme sofort ein schlechtes Gewissen, weil ich es mal wieder nicht geschafft habe. Weil ich es ihr noch schwerer mache. Sie tut alles für mich und ich kann noch nicht mal einfach nur gesund sein. Kann nicht mal normal essen, so wie früher, nicht normal Sport machen. Ich kann gar nichts. Schaffe nichts. Außer mich selbst zu Grunde zu richten.

„Schatz, was machst du?", fragt sie leise. Und erschöpft. Ich erschöpfe sie. Was bin ich nur für ein Monster?
„Ich konnte nicht anders", antworte ich und komme mir so unendlich schwach vor. „Ach, Maus." Sie kommt auf mich zu, nimmt mich in den Arm. Am liebsten würde ich das gar nicht zulassen, weil ich ihre Liebe und Fürsorge nicht verdiene. „Dein Herz pocht schon wieder so schnell", flüstert sie. Sie hat Angst. Ich auch. Vor der Stimme in mir, davor, ihr eine Last zu sein. Vor mir selbst. Mama räuspert sich und versucht sich an einem Lächeln. „Komm, wir machen Frühstück." Sie nimmt mich an der Hand und geht mit mir in die Küche. Ich weiß, dass sie sich sehr hetzen muss, um pünktlich zur Arbeit zu kommen, wenn sie mir jetzt hilft. Und wieder meinetwegen. Alles meine Schuld. Einfach alles.

Wie die Ernährungstherapeutin es mit uns abgesprochen hat, portioniert sie mir Joghurt und Haferflocken, während ich das Obst schneide. Heute sind es schon fünf Esslöffel Flocken. So viele Kohlenhydrate, so viele Kalorien! Ich kann das nicht essen, ich weiß es, obwohl ich so einen unglaublichen Hunger habe, dass mein Magen schmerzt, aber ich habe so Angst davor, dass mein Körper sich verändern könnte, zunehmen könnte, dass ich dick werde. Völlig irrational, weil es nicht sein kann, weil ich ein einziges Wrack bin, ein Skelett, aber die Stimme ist so laut. So unheimlich laut, dass ich nicht anders kann, als ihr zu glauben. Ich bin nicht dünn genug. Ich habe kein Recht, mich krank zu nennen.

Später sitze ich dennoch im Wohnzimmer und esse mein Müsli. Mama ist weg, sie musste los, aber als sie gegangen ist, habe ich ihr angesehen, wie viel Angst sie hat. Angst, dass ich überhaupt nichts esse, Angst, dass ich Sport mache. Angst, dass ich sterbe.
Ich tue ihr wenigstens diesen einen Gefallen und esse die Schüssel leer, auch, wenn die Stimme immer lauter schreit.

Am liebsten würde ich zurückschreien. Aber dafür fehlt mir die Kraft. Wie für alles eigentlich.

Dann stehe ich auf, gehe ins Bad, auf die Toilette. Wenigstens das funktioniert noch reibungslos, wenn mein Körper auch ansonsten streikt. Während ich mich umziehe, starre ich mich im Spiegel an. Ab und zu sehe ich die Knochen unter meiner von blauen Flecken übersäten Haut hervorblitzen. Meine Augen leuchten nicht mehr so wie früher, meine Wangen sind hohl, mein Po kaum mehr vorhanden.

Papa hat ihn geliebt. Er hat mich geliebt. Ich sah ihm ähnlich. Doch jetzt nicht mehr. Ich habe ihn kaputtgemacht, den Körper, den er und Mama mir geschenkt haben. Etwas stimmt nicht mit mir. Ich bin schwach. Krank. Ein Monster.

Und ich breche in Tränen aus, schleppe mich dennoch ins Wohnzimmer, um an der Videokonferenz teilzunehmen, die schon gestartet hat. Es muss sein. Aber ich wage es nicht mich hinzusetzen, stehe volle drei Stunden am Stück, mache zwischendurch Sit-ups, Liegestütze, Sprünge. Mir ist schlecht, schwindlig, mein Kreislauf sackt öfter kurz weg. Meine Glieder sind so unfassbar schwer. Ein Zeichen, dass ich etwas erreicht habe.

Alles tut mir weh, ich spüre jeden Knochen im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie liegen buchstäblich direkt auf dem Polster der Couch, ohne Schutz. Nur noch von Haut überspannt. Mehr bin ich nicht mehr. Nur noch Haut und Knochen. Erst jetzt wird mir wieder bewusst, dass ich liege, mich ausruhe, obwohl ich es nicht verdient habe, weil längst nicht alles erledigt ist. Ich muss weitermachen.

Doch ich habe das Gefühl, nicht aufstehen zu können, mein Körper wehrt sich, ich habe keine Kraft mehr, keine Luft zum Atmen. Kein Leben. Und der dumpfe, stetige Schmerz in meinem Magen, der mir Übelkeit verursacht, kündigt meinen Hunger an. Elf Uhr zwanzig. Noch drei Stunden, bis Mama kommt. Noch drei Stunden, bis ich wieder essen kann. Darf. Muss. Ich will so unbedingt essen. Müsste eigentlich die vereinbarte Zwischenmahlzeit zu mir nehmen, wie jeder normale Mensch auch. Aber ich kann es einfach nicht. Denn sonst müsste ich noch mehr Sport machen, um das auszugleichen, damit mein Körper so schlank bleibt, wie er ist. Und ich habe doch einfach keine Kraft mehr.

Trotzdem quäle ich mich auf die Beine, packe meine Sachen zusammen, verlasse das Haus. Jogge zum Supermarkt. Fühle nichts. Außer Schmerzen, Schwäche und Hass. Hass auf mich. Weil ich so schwach bin, weil ich dieser verdammten Stimme nicht widerstehen kann. Wenn Mama wüsste, dass ich das hier tue, dass ich nicht wie versprochen gegessen habe und schon wieder viel zu viel Sport gemacht habe, wäre sie unfassbar traurig. Und enttäuscht. Wahrscheinlich, ja. Ich kann gar nichts. Kann sie nicht glücklich machen. Wenn Papa mich so sehen könnte... nein, ich will nicht darüber nachdenken, denn sonst kommt wieder die Trauer, kommen wieder Gefühle, die ich nicht kontrollieren kann und ich kann ja sonst auch nichts in dieser Welt kontrollieren. Außer mich selbst. Und nicht mal das so wirklich. Deshalb renne ich vor mir selbst davon so schnell ich kann, bis mein Herz rast und ich keine Luft mehr kriege. Stolpere die Treppenstufen zu unserer Wohnung mit den Einkäufen hinauf und falle regelrecht in den Flur.
Meine Katze Mila schaut mich entsetzt an, als ich ihr so keuchend und heulend gegenüberstehe. „Was?", blaffe ich sie an, als sie mich daraufhin anmaunzt. Erschrocken läuft sie weg. Sogleich habe ich ein schlechtes Gewissen, aber ich kann nichts gegen diese plötzlichen Wutanfälle tun, die immer wiederkommen. Ich bin ein Monster.

Aber ich muss weitermachen. Muss Mama helfen. Deshalb sauge ich noch die ganze Wohnung, ehe ich an der Chemie-Konferenz teilnehme und trotz zwischenzeitlicher Work-outs mitschreibe. Während ich koche, lasse ich Erdkunde laufen. Höchste Zeit, es ist viertel vor zwei. Ich berechne alle Mengenangaben im Kopf, damit ja nichts übrigbleibt. Ich hasse es, wenn etwas übrigbleibt. Mit so wenig Öl wie möglich brate ich das Gemüse an, während ich dem Unterricht folge. Mein Magen hat aufgehört, sich zu beschweren. Er hat keinen Hunger mehr. Weil es ja eh nichts bringt. Aber wie soll ich ohne Hunger etwas essen? Das wäre vollkommen sinnlos! Und ich will so gerne essen! Schaue im Internet durch sämtliche Rezeptideen, um das Hungergefühl irgendwie wiederzubeleben, damit ich das Essen genießen kann, wenn Mama kommt.

Aber ich werde es nicht genießen können. Ich kann gar nichts mehr genießen. Habe Lust und doch keine Lust auf irgendwas, weil mir die Kraft fehlt. Ich weiß nicht, was aus mir geworden ist. Wer bin ich? Was habe ich getan?

Als Mama nach Hause kommt, sieht, dass ich gesaugt, gekocht und gespült habe, freut sie sich kaum, sondern schaut mich wieder nur unendlich verzweifelt an, drückt mich an sich. „Jetzt weiß ich, was ich bin. Ein Monster", denke ich bitter, während ich es nicht schaffe, mehr als einen kleinen Schöpfer Gemüsereis auf meinen Teller zu geben und Mama noch trauriger aussieht.

Aber ich will es nicht mehr sein. Will kein Monster mehr sein. Ich will wieder ich sein. Und deshalb werde ich kämpfen. Gegen die Stimme. Für mich. Für meinen Körper. Für alle, die ich liebe und alles, was ich liebe. Für mein Leben.

 

Bildnachweis: AdobeStock

Über die Autorin

Maya, 16 Jahre, derzeit in der Intensivphase