Hallo, mein Name ist Hubert[1] .
Ich möchte hier einen Beitrag dazu leisten, dass einige Untergewichtige da draußen sich evtl. trauen, ihren BMI zu erhöhen; im besten Fall natürlich bis zum Normalgewicht. Durch die folgenden Punkte möchte ich ihnen das schmackhaft machen.
Auch ich habe lange Zeit unter zu niedrigem Gewicht gelitten. Im Rückblick muss ich feststellen, dass die fehlende Spannbreite und Intensität meiner Gefühle und meine reduzierte Fähigkeit, diese wahrzunehmen, mich fast am meisten beeinträchtigt haben.
Da ich Sprache interessant finde und durch die Zeit am TCE auch wieder Lust daran gefunden habe, damit zu spielen, habe ich die für mich wesentlichen Punkte, warum man zunehmen sollte, wenn man untergewichtig ist, unter dem Begriff WELLE zusammengefasst.
W - Wohlbefinden
Am TCE gab es einen TAK (Therapeutischer Arbeitskreis), eine kleine Gruppe, in der sich Patienten/-innen treffen, um gemeinsam schöne Freizeitaktivitäten zu unternehmen. Auf dem Infozettel dazu stand der Spruch „Tue deinem Körper etwas Gutes, damit die Seele Lust bekommt, darin zu wohnen“. Dieser Satz ist am TCE Programm!
Häufig ist es so, dass sich mit steigendem Körpergewicht ein besseres Körpergefühl einstellt, weil die Fähigkeit, sich selbst als schön wahrzunehmen, sich wieder einstellt. Es lohnt sich also zuzunehmen, …
… weil der Körper dankbar ist für jedes Gramm, das er geschenkt bekommt, und das auch belohnt.
E - Entwicklung
Entwicklung beziehungsweise Unterentwicklung ist für viele Betroffene natürlich ein Thema. Junge Frauen aus der Gruppe der 16- bis 25-Jährigen bleiben davon – sofern sie sich nicht schon sehr lange restriktiv ernährt haben – weitgehend verschont, da ein Großteil ihrer Entwicklung in der Pubertät bereits vor Beginn der Essstörung geschafft war. Aber auch bei ihnen verliert der Körper die Attribute der Weiblichkeit. Bei jungen Mädchen oder jungen Männern, die sich altersbedingt noch nicht richtig entwickeln konnten, können Unterentwicklung und Kleinwüchsigkeit Folgen der Essstörung sein. Oft führt das auch zu Unverständnis und Ausgrenzung seitens der Öffentlichkeit.
Wird der Organismus dann wieder mit allem Notwendigen versorgt, gehen viele Betroffene regelrecht auf wie eine Wüstenblume im Regen nach einer langen Zeit der Trockenheit. Der Körper verändert sich, wächst vielleicht sogar noch, entwickelt was zum Mann/Frausein dazugehört, sieht allmählich altersgerecht aus.
Ich glaube nicht, dass Außenstehende das gut nachvollziehen können – aber wenn man so etwas miterlebt hat, weiß man: Ein solcher Prozess ist ein Riesengeschenk. Das gesunde Zunehmen lohnt sich also, …
… weil ein gesunder, hübscher, attraktiver Körper nur mit genügend Energie existieren kann, und man mit jedem Kilo zum Normalgewicht besser aussehend wird.
L - Lebensfreude
Ich habe am TCE von einer ehemaligen Patientin gehört, die am Ende ihrer Therapie sagte, sie habe nun „20 Kilogramm mehr Lebensfreude“. So viel müssen zum Glück nicht alle zunehmen – aber im Laufe der Gewichtszunahme können viele Betroffene tatsächlich erfahren, dass Lebensfreude, Energie und Spaß auch die Folge von ausreichendem Essen sind. Gerade in der Mitte der Intensivphase, wo sich der Körper freut, aus dem extremen Untergewicht heraus zu sein, kommt es – meiner Erfahrung nach – häufig zu regelrechten „Flows“: Man darf schon wieder etwas unternehmen, nach Hause fahren und hat wieder Lust auf Dinge. Zwar hat man noch ein gutes Stück Weg bis zur Stabilisierungsphase vor sich, wo der Kampf mit der Krankheit noch einmal richtig aufflammt – doch wenn dann noch gutes Wetter und nette „Kollegen“ dazukommen, dann sind solche Phasen ein einziger Traum, eine Erholung von häufig jahrelangen Qualen – das kann ich nicht nur von mir, sondern von meiner ganzen „TCE-Generation“ sagen. Jedes Kilo ist ein Schritt in Richtung der alten, vielleicht aber auch neuen Lebensweise, die viele herbeisehnen. Es ist also erstrebenswert zuzunehmen, …
… weil man mit jedem Kilo, das man sich weitertraut, mehr Lebensfreude bekommt.
L - Leichtigkeit
Das mag jetzt paradox klingen, da man ja eigentlich schwerer wird, aber mit steigendem Gewicht entwickelt man durchaus mehr Leichtigkeit: Man wird sorgenloser, freier, im positiven Sinne leicht-sinnig. Dann nimmt man halt mal 1,5 Kilogramm übers Wochenende zu; dafür war das Essen in der Stadt mit Freunden lecker, lustig und entspannt! Und was ist schon ein so tolles Erlebnis im Vergleich zu einer Zahl?
Klar, auch wenn ich dies hier so locker schreiben kann, fällt mit gerade eine solche Situation in der Realität noch immer schwer. Aber es ist mein Ziel, diese Gelassenheit zu entwickeln.
Auch der Perfektionismus, häufig ein Symptom, verliert an Bedeutung. Dann wird halt mal in der Kunsttherapie Farbe verkleckert oder ein Bild im LiB, dem kreativen „Therapietagebuch“, misslingt völlig, trotzdem werden witzige Sprüche gerissen, man bekommt einen tiefen Einblick in die Welt anderer oder lernt selbst Wichtiges über sich. Mit steigendem Gewicht treten wieder andere, „normale“, dem Alter mehr entsprechende Dinge in den Vordergrund! Das Zunehmen hat darum einen tieferen Sinn, …
… weil man eine gesunde Unbeschwertheit aufbaut und damit freier, offener, lustiger wird.
E - Entspannung
Das kennt ja jeder mit einer Essstörung: Man ist ein unruhiger, getriebener, rastloser Geist, steht unter permanentem Druck. Wenn man ins TCE geht und sich entschließt, sein Gewicht in einen gesunden Bereich zu führen, kann man sich bei der Ankunft häufig zum ersten Mal seit Jahren fallen lassen: kein Essen kontrollieren müssen, kein übertriebenes Bewegen, kein zusätzlicher Stress durch Familie, Schule, Beruf – einfach erst mal zur Ruhe kommen und sich bereit machen für die Therapie.
Auch im weiteren Verlauf der Therapie steht Entspannung im Fokus: Man lernt Methoden, Anspannungen aller Art zu mildern. Natürlich ist ein Leben ohne Stress nicht möglich, aber der zusätzliche, von der Essstörung kommende Stress muss nicht sein. Zunehmen sollte also untergewichtigen Menschen empfohlen werden, …
… da man so ein besseres, entspannteres und ausgewogeneres Leben hat.
Das sollte jetzt keine Laudatio an das TCE sein, sondern meine persönlichen Erfahrungen, Überzeugungen und Sichtweisen darstellen. Den Begriff WELLE habe ich auch deshalb gewählt, weil man sich erst einmal trauen muss, auf eine Welle aufzuspringen. Und wenn man Sicherheit in und Freude an diesem Vorgang gefunden hat, kann sie einen weit tragen, und irgendwann kann man auf ihr vielleicht auch Kunststücke machen und das Leben genießen, so wie es ist.
Bei Interesse oder weiteren Fragen steht euch bestimmt das TCE-Team gerne zur Verfügung!
[1] Name auf Wunsch des Patienten geändert.
Bildnachweis: istockphoto.com/Kadir Barcin
Hubert, 17 Jahre, ehemaliger Patient im TCE