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16. November 2016 · Aktuelles

Orthorexie - ist dies eine neue Form der Essstörung?

Seit rund 20 Jahren geistert der Begriff „Orthorexie“ durch die Medien. Immer wieder erhalten wir Anfragen für Zeitungsartikel oder TV-Reportagen, die sich mit diesem Phänomen befassen. Doch was genau ist das eigentlich, Orthorexie?

Der Begriff bezeichnet die obsessive Beschäftigung mit gesunder Ernährung. Eingeführt wurde er 1997 von Steven Bratman, einem Arzt, der als Koch in einer New Yorker Kommune inmitten von Veganern, Rohkostverfechtern und Makrobiotikern vielfach mit diesem Phänomen konfrontiert war und auch selbst darunter gelitten hatte. Bratman beschreibt das Phänomen auf seiner Homepage damit, dass die Betroffenen völlig eingenommen von einer gesunden Ernährungsweise seien und zwanghaft Diät hielten. Sie verwendeten viel Zeit für Literaturrecherchen, den Einkauf "reiner" und "gesunder" Lebensmittel oder die Planung und Zubereitung ihrer Mahlzeiten, neigten auch dazu, ihre Mitmenschen zu missionieren oder sich ihnen aufgrund ihrer Ernährungsweise überlegen zu fühlen. Wenn Orthorektiker ihre selbstauferlegten Diätregeln verletzten und vermeintlich Ungesundes essen, gehe dies mit großen Scham- und Schuldgefühlen einher oder löse übertriebene Krankheitsängste aus. Körperbild, Selbstwertgefühl und Identität seien in hohem Maße von der Einhaltung der selbstauferlegten Ernährungsregeln abhängig. Im Verlauf komme es häufig zu einer Eskalation der Diätregeln. Immer mehr Lebensmittel würden aus dem Speiseplan ausgeschlossen, immer striktere Entschlackungs- und Reinigungskuren stünden auf dem Programm. Sämtliche Aktivitäten würden der Planung einer gesunden Ernährung und eines gesunden Lebensstils untergeordnet, Beruf und Sozialkontakte würden vernachlässigt. Die beschriebenen Verhaltensweisen führten schließlich neben dem Verlust an Lebensqualität auch zu einer ausgeprägten gesundheitlichen Beeinträchtigung, zu Mangelernährung, massivem Gewichtsverlust oder medizinischen Komplikationen.

Bratman selbst betont auf seiner Homepage, dass es sich bei der Orthorexie nicht um eine wissenschaftlich anerkannte Krankheit handele, und strebt deren Aufnahme in den Diagnostikkatalog auch gar nicht an. Tatsächlich ist dieses Störungsbild in der psychologischen Fachwelt höchst umstritten. Es gibt keine klaren Kriterien, anhand derer eine Orthorexie diagnostiziert werden könnte, keine verlässlichen Messmethoden, keine einheitliche Definition. Selbst wenn man davon ausgeht, dass es sich bei der Orthorexie um eine psychische Störung handeln könnte, ist unklar, ob sie eher den Essstörungen, den Zwangsstörungen oder den Krankheitsängsten zuzuordnen wäre. Da es bislang keine eindeutige Definition der Orthorexie gibt, bleibt auch vollkommen offen, wie viele Menschen davon betroffen sind. Die Angaben in wissenschaftlichen Studien schwanken zwischen 1% und 89% der Bevölkerung, sind also letztlich völlig unbrauchbar. Auch finden sich widersprüchliche Aussagen darüber, ob mehr Männer oder mehr Frauen betroffen sind oder welchen Einfluss Alter, Bildungsstand, BMI (Body-Mass-Index, dieser dient der Bewertung des Körpergewichtes) oder Suchtmittelkonsum haben. Empirisch ist die Orthorexie kaum untersucht, es gibt auch nur sehr wenige Studien, die sich überhaupt mit diesem Phänomen befassen.

Tatsächlich ist mir am TCE in all den Jahren meiner Tätigkeit niemand begegnet, der das Bild einer Orthorexie erfüllt hätte, ohne nicht gleichzeitig auch an einer klassischen Essstörung erkrankt zu sein.  Es mag sein, dass Menschen, die ausschließlich orthorektisch sind, sich nicht ausreichend krank fühlen, um sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Vielleicht ist ihr Leidensdruck nicht groß genug. Vielleicht ist ihnen nicht klar, dass sie in Therapieeinrichtungen wie dem TCE Hilfe finden könnten. Vielleicht ist die Orthorexie aber auch einfach nicht das große und weitverbreitete Problem, für das es viele halten.

Die übertriebene und nahezu zwanghafte Beschäftigung mit gesunder Ernährung ist zunächst einmal keine Krankheit, sondern ein gesellschaftliches Phänomen. Allenthalben werden Nahrungsmittel angepriesen, die uns Gesundheit, Jugend und ewiges Glück versprechen. Jede zweite Woche taucht eine neue Ernährungsform auf, die das Versprechen in sich trägt, alle Zivilisationskrankheiten zu besiegen und zu mehr Gelassenheit und Einklang mit uns selbst zu führen. In unserer leistungsbetonten Gesellschaft ständiger Selbstoptimierung ist die Gesundheit das neue „goldene Kalb“ geworden, um das wir alle mehr oder weniger ekstatisch herumtanzen. Dass die Vielzahl an widersprüchlichen und empirisch nicht belegten Ernährungslehren bei manchen Menschen eine tiefgehende Sehnsucht nach Halt und Orientierung weckt und der Übereifer neu gefundener Wahrheit seltsame Auswüchse annehmen kann, ist nicht weiter verwunderlich. Leider ist dieses Phänomen dennoch nicht harmlos. Denn für Menschen, die dafür anfällig sind, kann das übertrieben „gesunde“ Ernährungsverhalten ebenso wie Diäten und Schlankheitskuren zur Einstiegsdroge in eine klassische Essstörung werden.

Auch Betroffene mit einer Magersucht, Bulimie oder Binge-Eating-Störung führen gerne das Gesundheitsargument ins Feld. „Schokolade ist doch ungesund!“ heißt es dann oder „Eine Gemüsepfanne ist aber viel gesünder als Käsespätzle!“. Angesichts einer Essstörung greift dieses Argument aber zu kurz, denn wenn ein zwanghaftes Ernährungsregime mein Leben bestimmt und mir die Luft zum Atmen raubt, dann ist Gesundheit – vor allem seelische Gesundheit – ein Zustand der Freiheit und des Wohlbehagens, der es mir erlaubt, aus allen verfügbaren Nahrungsmitteln zu wählen und der Erfahrung von Freude und Genuss dabei genauso viel Bedeutung beizumessen wie der Fürsorge für meinen Körper. Und dieses Ziel gilt für die Magersucht, die Bulimie oder die Binge-Eating-Störung genauso wie für die Orthorexie.

Bildnachweis: Carolin Jacklin/Klinikum Dritter Orden

Über die Autorin

Dr. Karin Lachenmeir ist Psychologische Psychotherapeutin und seit 2002 im TCE tätig, seit 2008 als Leiterin der Einrichtung. Sie ist approbierte Verhaltenstherapeutin und hat Weiterbildungen in Körpertherapie und Systemischer Beratung absolviert. Seit 2011 ist sie zudem als Dozentin und Supervisorin für verschiedene Münchner Weiterbildungsinstitute tätig. Am TCE hat sie die Verantwortung für alle personellen, organisatorischen und fachlichen Fragen. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten lesend oder schreibend, auf ausgedehnten Spaziergängen, im Kino, im Theater oder auf Reisen.