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TCE-Blog

09. August 2016 · Erfahrungsbericht

Weniger is(s)t mehr

"Manchmal ist es einfach, als würde man versuchen, Rauch mit bloßen Händen einzufangen..." Manchmal stehe ich wie neben mir. Dann schaue ich mir selbst dabei zu, wie ich dasitze und mich mit jemandem unterhalte und ich denke mir: "Was machst du da gerade eigentlich? Wie bist du hierher gekommen?" Es ist nicht so, dass ich die Person, mit der ich rede, nicht leiden könnte. Und das Gespräch muss nicht unbedingt langweilig sein oder gar unangenehm. Ich leide auch nicht an irgendeiner Form von Aufmerksamkeitsstörung oder Gedächtnisschwund.

Nein. Ich habe nur Anorexie.
Die Gute begleitet mich seit nunmehr 5 Jahren durch mein Leben. Oft flüstert sie mir Ratschläge in mein Ohr, denen ich, wie ich gestehen muss, manchmal folge. Ab und zu zieht sie an meinem Ärmel. Manchmal ganz zaghaft und dann wieder zerrt sie so fest, dass sie ein Stück Stoff abreißt.

Es gab Zeiten, da habe ich ihr meine tiefsten Geheimnisse anvertraut. Ihr – und niemandem sonst. Da habe ich mich von ihr streicheln lassen, ihr von meinem Essen abgegeben und mit Wohlwollen immer größere Teile meiner Zeit geschenkt. Sie wurde zu meiner besten Freundin, zu meiner Verbündeten.

Es hätte so gut laufen können. Doch sie wurde immer fordernder. Meine eigene Meinung war mir nicht mehr wichtig – ohne Wenn und Aber musste ich ihr gehorchen. Rücksichtslos nahm sie sich Teile meines Lebens, so wie es ihr gerade beliebte.

Meine Freunde. Meine Ehrlichkeit anderen und vor allem mir selbst gegenüber. Meinen Appetit. Meine Begeisterung. Meine Gelassenheit. Meine Leidenschaft für Bücher, für das Schreiben, für alte Dinge, für das Reisen – gerade erst war ich von meinem 10-monatigen Auslandsaufenthalt in den USA zurückgekehrt, nun sah ich keinen Sinn mehr darin, mich jemals wieder außer Reichweite meines Zimmers zu bewegen.

Sie nahm mir das Interesse und die Neugier auf das Leben. Meine Träume. Und füllte die nun leeren Stellen mit ihren Gedanken, die laut in meinem Kopf widerhallten.

Mein Widerstand kam viel zu spät.

Ich werde nie den Moment vergessen, als meine Mutter vor mir stand, mich unverwandt anblickte und sagte: "Steffi, du hast deinen Charme verloren."

Ich will nicht behaupten, dass ich je mit einer außerordentlich großen Portion Charme gesegnet gewesen wäre, aber womit sie Recht hatte war, dass ich mich selbst nicht mehr kannte. Ich war ein ferngesteuertes, emotionsloses, verbittertes Etwas geworden: getrieben und eines jeden Sinnes beraubt.

Ich hielt es in meinem eigenen Kopf nicht mehr aus. Schon nach 6 Wochen Gesprächstherapie stellte sich heraus, dass ich es so nicht schaffen würde, die befehlende Stimme aus meinem Kopf zu vertreiben. Ich machte einen Termin für ein Beratungsgespräch in einem therapeutischen Wohnheim aus und ehe ich mich versah, lag ich einen Tag später im Krankenhaus. Zwei Wochen später trudelte ich, mit gepacktem Koffer, im Sekretariat des TCE, dem Therapie-Centrum für Essstörungen, ein.

Viereinhalb Monate lang nahm ich nun jeden Wochentag an der Gruppen- und Einzeltherapie teil: Verhaltens-, Kunst-, Körper-, Beziehungs- und Ernährungstherapie. Mit über den ganzen Tag verteilten, geregelten Mahlzeiten lernte ich langsam wieder, was ein "normaler Mensch" täglich isst. Bis heute habe ich die meiste Zeit kein Hungergefühl. Mich darauf verlassen zu wollen, hätte also nicht geklappt.

Das TCE ist keine Klinik, auch wenn es offiziell dem Klinikum Dritter Orden angehört – im TCE leben die PatientInnen gemeinsam in 3er bis 4er WGs: eigene Küche, Wohnzimmer, 2 Bäder, 2 Schlafzimmer. Dort hat man seinen Rückzugsort, und das WG-Leben gestaltet sich tatsächlich so gut wie im normalen Leben. Auch werden die Regeln mit der Zeit immer lockerer. Man darf öfter "rausgehen", etwa in die Stadt, sich mit Freunden treffen, mal übers Wochenende nach Hause fahren usw.

Das hört sich zunächst vielleicht ein bisschen komisch an: ein paar Essgestörte, die auf einem Haufen sitzen. Und tatsächlich kommt man sich manchmal ein wenig ungewöhnlich vor, wenn man mit der Gruppe einen Ausflug ins Museum macht, um Punkt 14.45 Uhr einer ruft "Zwischenmahlzeit!", und alle synchron einen Apfel aus der Tasche ziehen. Aber Humor und eine Portion Selbstironie sind oft essentiell, ansonsten würde man vor lauter Ernsthaftigkeit wahnsinnig werden.

Das TCE ist das Beste, was mir passieren konnte. Dort habe ich erfahren, dass es ein Leben gibt, das trotz Essstörung wunderbar normal sein kann: abends mit Freunden auf dem Sofa sitzen und eine DVD schauen, gemeinsam kochen, Ausflüge machen...

Das Unfassbare für mich, und ich muss gestehen, es fasziniert mich immer noch: Bis ich in das TCE kam, dachte ich, nur ich hätte diese "speziellen" Gedanken. Ich glaubte, bei allen anderen  – ob Anorektikern, Bulimikern oder Binge-Eatern – ginge es um etwas komplett Anderes als bei mir. Nun erkannte ich, dass unsere Gedanken – im Großen und Ganzen – genau dieselben waren.

Ich werde jetzt nicht all zu sehr ins Detail gehen, was die Krankheitsgeschichte, ihre Ursachen usw. angeht, aber Folgendes kann ich mit Sicherheit sagen:

Extremer Gewichtsverlust bzw. -zunahme, Appetitlosigkeit bis "Fressanfälle", verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers, "Einsparen" von Essen (d.h. im schlimmsten Fall wenig bis gar nichts zu essen), zwanghaftes Kalorienzählen, das ständige Denken an Essen und dessen genaue Planung, Kochbücher wälzen, exzessives Sporttreiben und vieles mehr – das alles sind nur Symptome. Die Art, auf die sich das äußert, was unsere Seelen zerfrisst.

Und das ist der Punkt, an dem die Therapeuten des TCE ins Spiel kommen: Mit ihnen geht es um die Frage nach dem Warum und um die Wiedereingliederung ins alte bzw. das Aufbauen eines "neuen" Lebens. Es wird versucht herauszufinden, was man selbst an der aktuellen Situation ändern kann, um eine Chance auf ein erträgliches und vielleicht sogar glückliches Leben zu bekommen.

Nach den 4-5 Monaten Intensivphase durchläuft man eine ebenfalls 4-5 monatige Stabilisierungsphase: Man wohnt zwar noch in den WGs und nimmt an therapeutischen Veranstaltungen teil, geht aber wieder mehr dem alltäglichen Leben nach. In meinem Fall habe ich mir eine Münchner Gastschule ausgesucht und dort die zweite Hälfte der 10. Klasse besucht. Andere machen Praktika, einen Nebenjob oder besuchen wieder Vorlesungen an der Uni. Zweimal pro Woche trifft man sich noch zur Therapie.

Ich schreibe das hier alles nicht, um Aufmerksamkeit zu bekommen oder mich in meinem Selbstmitleid zu suhlen. Ich stelle mich keinesfalls als kleine, tragische Heldin hin. Alles, was ich hiermit erreichen möchte, ist Aufmerksamkeit auf die Krankheit zu lenken und vielleicht sogar das Bild, das der ein oder andere von Essstörung hat, zurechtrücken:
Wir sind keine naiven, selbstverliebten Narzissten, die aussehen wollen wie Barbie, weil die ganze Scheiße, in der wir sitzen, entstanden ist, nachdem wir beschlossen haben, dem heutigen Schönheitsideal "klapperdürr" entsprechen zu wollen. Und "einfach" wieder "normal" zu essen ist nicht die Lösung des Problems.

Vielleicht seid ihr Angehörige, werdet einmal welche sein, vielleicht interessiert euch das Thema oder ihr seid sogar selbst davon betroffen.

Wenn das der Fall ist, dann möchte ich euch Hoffnung machen und euch dazu ermutigen, euch Hilfe zu holen – auch wenn ihr glaubt, ihr schafft es alleine. Oder vielleicht genau dann.

Wenn es eins ist, das ich gelernt habe, dann ist es das: Es ist in Ordnung sich helfen zu lassen. Man muss nicht immer stark sein. Denn man kann nicht immer stark sein.

Die Maske der Stärke zu tragen, kostet so unheimlich viel Kraft. Denn in Wirklichkeit zerfällt man dahinter immer mehr zu Staub. Und wenn man nicht aufpasst, fehlt nur ein kleiner Windstoß, der nicht nur die Mauer, sondern das ganze Herz mit wegbläst.

Schritt für Schritt habe ich gelernt, wieder Spaß am Leben zu haben, kleine Momente des Glücks zu finden und diese zu würdigen. Nach meinem Auszug aus dem TCE – ich war damals 17 – zog ich zu meiner Familie zurück und besucht die 11. Klasse der FOS. Es ging mir gut. Ich hatte meine Essstruktur und kam sehr gut in der Schule mit.

Aber dann kam das eine zum anderen, zum Beispiel waren meine Freunde größtenteils weggezogen und hatten schon angefangen zu studieren. Und irgendwann fing es wieder an. Es gab nicht einen großen Rückfall, aber die Anorexie schlich sich wieder ein, nistete sich immer mehr in den tiefsten Ecken meines Geistes ein.

Das Fachabitur – das stand für mich fest – wollte ich unbedingt noch in der Tasche haben, ich war ja eh schon "hinten dran". Die Woche vor den Prüfungen (in den Pfingstferien 2013) verbrachte ich im Klinikum Dritter Orden zum "Aufpäppeln" und als Vorbereitung für einen erneuten Aufenthalt im  TCE. Man kann nun mal nicht außer Acht lassen, welche körperliche Folgen das Abmagern mit sich bringt, auch wenn man diese oft nicht spürt: Perikarderguss, dadurch sehr niedriger Puls, Kurzatmigkeit, Schilddrüsendysfunktion usw. Bei etwa 10-15% der Betroffenen endet die Erkrankung tödlich – davon teils wegen der körperlichen Folgen der Unterernährung, teils durch Suizid.

Zwei Tage nach dem Abi bin ich also wieder ins TCE gezogen.

Ihr seht, auch das beste Therapiekonzept (und in der Art auch einzigartig in Deutschland) ist kein Wunderheilmittel. Betroffene müssen konstant an sich arbeiten, auch wenn das einerseits mit der Zeit einfacher wird, andererseits kann es immer wieder Rückfälle geben. Es geht darum, nicht aufzugeben.

Ich muss sagen, dass das zweite Mal TCE um einiges härter war für mich. Aber es hat mich auch noch mehr gelehrt. Wenn man sich nämlich durch so viele schwere Situationen gekämpft hat, mit eigener Kraft – die Therapeuten kauen einem ja keinesfalls die Antworten auf jede noch so kleine Frage vor – und nach jedem Sturz auf die Nase wieder aufgestanden ist und sich den Staub von den Schultern gewischt hat: Dann passiert es zwangsläufig, dass man an Stärke gewinnt. Die vielen Niederschläge machen einen nicht kleiner, sie geben einem Zuversicht, Mut und Selbstbewusstsein.

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie mein Leben – wie ich – früher war, ohne die Anorexie als Schatten neben mir. Und ich kann mir – so sehr ich es mir auch wünsche – nicht vorstellen, wie sie jemals wieder verschwinden soll. Sie ist ein Teil von mir geworden und wird das bleiben. Damit habe ich mich jetzt abgefunden. Das ist allerdings bei weitem kein Grund, nicht jeden Tag gegen sie anzukämpfen. Und das schließt auch nicht aus, dass sich der Symptomdruck weiterhin verbessert und das Essen immer nebensächlicher wird.

In den Sommerferien bin ich wieder nach Amerika geflogen, zur Hochzeit meiner Gastschwester, und konnte so einen Teil meiner Träume wieder leben und zu mir selbst zurückfinden. Im Herbst habe ich mir einen langen Traum erfüllt und bin nach London geflogen.

Nach meinem zweiten TCE-Aufenthalt, diesmal 11 Monate, bin ich zurück an die FOS gegangen. Letzten Sommer habe ich die 13. Klasse abgeschlossen und studiere nun seit Oktober Psychologie – meinen Wunschstudiengang. Ich habe keine Angst vor der Zukunft. Mir geht es gut. Auch wenn der Stress manchmal überhand nimmt, bin ich jede Sekunde lang froh, dass ich bin, wo ich bin.

Dass ich wieder lebe.

Bildnachweis: istockphoto.com/KatarzynaBialasjewicz

Über die Autorin

Steffi, 22 Jahre – war Patientin im TCE