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TCE-Blog

03. November 2021 · Erfahrungsbericht

Wirken sich Gruppendynamiken auf die Therapie von Essstörungen aus?

Im Rahmen meiner Masterarbeit zusammen mit Theresa Reichhold, betreut durch Dr. Eva Wunderer von der Hochschule Landshut, habe ich die gruppendynamischen Prozesse im TCE untersucht. Wir wollten herausfinden, inwiefern sich die PatientInnen in der Gruppe gegenseitig eher positiv oder negativ beeinflussen. Hierfür haben wir im Februar 2019 insgesamt 25 Betroffene in Kleingruppen befragt.

Zufälligerweise suchte das TCE genau zu dem Zeitpunkt eine sozialpädagogische Unterstützung für ihr Team, als ich meine Masterarbeit fertigstellte. Da ich während der Durchführung der Interviews schon so begeistert von der Einrichtung, dem Konzept und den lieben MitarbeiterInnen war, bewarb ich mich direkt um die Stelle. Seit Ende November arbeite ich nun hier als klinische Sozialarbeiterin und möchte Euch nun gerne die Ergebnisse meiner Arbeit vorstellen.

Durch die Gruppeninterviews zeigte sich, dass die Betroffenen die gemeinsamen Therapiestunden in der Gruppe sowie das WG-Leben mit anderen Betroffenen als sehr wertvoll empfinden. Vor allem die geteilten Erfahrungen, das Verständnis und Mitgefühl füreinander, der Austausch von Erfahrungen und Handlungsstrategien und die Unterstützung bei der Bewältigung von Schwierigkeiten im Alltag werden hier als Vorteile einer Gruppenbehandlung genannt.

Zudem konnten wir Gruppendynamiken herausarbeiten, durch die sich die Betroffenen gegenseitig in ihrem Genesungswunsch stärken und sich motivieren, gemeinsam gegen die Essstörung zu kämpfen, was hier als "Engelskreise" bezeichnet wird. Diesbezüglich berichten die BewohnerInnen des TCEs vor allem von einem Verpflichtungsgefühl gegenüber der Gruppe. Einspargedanken, Bewegungsdrang oder anderes Symptomverhalten wird laut den Betroffenen häufig nicht ausgeführt, da dies ‚ungerecht´ gegenüber der Gruppe wäre:

„[...] weil ich finde dadurch, dass ich weiß, dass ich mich hier mit der Therapie, mit meinem Verhalten, auch den anderen gegenüber verpflichte, um sie eben nicht runterzuziehen oder ja, keine Ahnung... Wir haben auch Verträge, wo wir quasi auch sagen, dass wir uns nicht nur uns gegenüber, sondern auch den MitpatientInnen gegenüber verpflichten. Das, finde ich, ist auch eine richtig gute Motivation einfach. Ja, das ist auch positiv" (1, Z. 221 – 226).

Durch die gemeinsamen Therapiestunden und das gemeinsame Wohnen seien die Betroffenen zudem rund um die Uhr in Gemeinschaft, wodurch das Ausleben von Symptomverhalten weniger Raum finde beziehungsweise Symptomverhalten direkt auffalle und angesprochen werde. Zudem berichten die BewohnerInnen des TCE davon, dass die (vor allem „therapieälteren") Mitglieder der Gruppe als positives Vorbild dienen, wodurch die individuelle Motivation und Hoffnung sowie der Glaube an die Behandlungsmethode erhöht würden.

Neben der positiven Beeinflussung ihrer MitpatientInnen berichten die Betroffenen allerdings auch von "Teufelskreisen", sprich negativen Beeinflussungsprozessen. Hier betonen die PatientInnen vor allem Abgrenzungsschwierigkeiten und beschreiben den ständigen Kampf, sich von der Stimmung und den Symptomen ihrer MitpatientInnen nicht anstecken zu lassen. Gelinge die Abgrenzung nicht, bestehe die Gefahr, Symptome durch MitpatientInnen kennenzulernen und zu übernehmen. So berichten die BewohnerInnen des TCE beispielsweise davon, erst durch den Aufenthalt im TCE das Symptomverhalten "Bewegungsdrang" kennengelernt oder durch das Zusammenleben mit anderen Betroffenen, Angst vor bestimmtem Essen, wie beispielsweise Bananen, bekommen zu haben.

„(...) Ein anderes Beispiel, das hat mich dann auch extrem genervt: ich wu?rde fast sagen, dass ich Angst vor Essen bekommen habe, weil andere Leute Angst vor Essen haben. Zum Beispiel: (...) Obst war fu?r mich immer gesund und da gab es keine Abstufungen. Ich hatte vor keinem Obst Angst oder vor keinem Obst mehr Angst, als vor anderem Obst und dann bin ich hergekommen und bei jedem Obstmix wurden immer die Bananen übriggelassen und dann hieß es: ‚Oh Gott, die Bananen.' Und ich dachte mir: ‚Oh Gott, wenn die anderen die Bananen nicht essen, dann darf ich auch keine Bananen essen.' Was mich total genervt hat, weil ich Bananen liebe. Und dann habe ich drei Monate keine Bananen mehr gegessen, weil ich Angst vor Bananen hatte" (5, Z. 601-618).

Auch bestehe die Gefahr, in Bezug auf Symptomverhalten, Krankheitsschwere, Figur und Gewicht untereinander in Konkurrenz zu treten, da für viele Betroffene Vergleiche mit anderen ein großes Problem darstellten.

Trotz dieser Gefahren in störungsspezifischen Behandlungseinrichtungen berichten die PatientInnen davon, dass die allgemeine Atmosphäre im TCE im positiven Sinne stark sei und die Betroffenen gemeinsam gegen die Essstörungen ankämpfen würden. Dies lässt sich auf einige besondere Rahmenbedingungen des TCEs zurückführen, welche Engelskreise begünstigen und Teufelskreise reduzieren:

1) Hohe Eigenmotivation der Betroffenen als Aufnahmekriterium
2) Klare Regeln, die unmissverständlich kommuniziert werden
3) Klare Konsequenzen
4) Das Phasenmodell (Therapieältere können als Vorbilder für neuere PatientInnen fungieren und die Hoffnung auf den Behandlungserfolg stärken)

Kam es trotz dieser Rahmenbedingungen zu ungünstigen Gruppendynamiken im TCE, beschrieben die Betroffenen hilfreiche Bewältigungsstrategien, um sich vor der sozialen Ansteckung zu schützen:

1) Rückmeldungen helfen, sich vom Symptomverhalten anderer abgrenzen zu können und verringern die Ansteckungsgefahr, da auf diese Weise unbewusstes Verhalten aufgezeigt und unterbunden werden kann.
2) Bewusstes Wahrnehmen des Symptomverhaltens anderer und aktives Handeln gegen den Wunsch, das Symptomverhalten zu übernehmen.
3) Bewusstes Distanzieren von Gesprächen über bisherige Klinikaufenthalte und andere Themen der Essstörung.
4) Den Fokus auf eigene Bedürfnisse lenken und sich das eigene Therapieziel vergegenwärtigen.

Zudem berichten die Betroffenen davon, wie flexibel und aufmerksam die Fachkräfte im TCE bezüglich ungünstiger Gruppendynamiken seien und dass sie zeitnah darauf reagieren würden, wenn sie solche wahrnähmen. Auch dadurch schaffe es das Team des TCE, Teufelskreise im Keim zu ersticken.

Nichtsdestotrotz konnten wir einige Veränderungsmöglichkeiten herausarbeiten, um die Betroffenen noch stärker vor der sozialen Ansteckung zu schützen. Unserer Meinung nach ist es besonders wichtig, die Engels- aber auch Teufelskreise offen anzusprechen, wenn sie beobachtet werden, und gemeinsam zu reflektieren, wie damit am besten umgegangen werden kann. Wichtige Maßnahmen sind hierbei die Stärkung der Abgrenzungsfähigkeit, der Ressourcenaufbau und die Förderung des Kontakts zu Nicht-Betroffenen.

Da sich zur Umsetzung dieser Ziele die klinische Sozialarbeit sehr bewährt hat, freue ich mich besonders, meine Erkenntnisse nun auch praktisch einbringen zu können und die Arbeit des TCE künftig als Sozialpädagogin und klinische Sozialarbeiterin zu unterstützen.

 

Bildnachweis: TCE/Caronlin Jacklin

Über die Autorin

Mira Groll absolvierte im September 2020 ihren Master in klinischer Sozialarbeit an der Fachhochschule für angewandte Wissenschaften in Landshut. Seit November 2020 ist sie im TCE als Sozialpädagogin/klinische Sozialarbeiterin angestellt.

Zu ihren Hauptaufgaben gehören neben der sozialen Beratung die Organisation der therapeutischen Wohngemeinschaften (TWGs), die pädagogische Betreuung in der TWG sowie die Teilnahme an Angehörigenworkshops und Nachbetreuungsveranstaltungen.

In ihrer Freizeit ist sie meistens in der Natur zu finden. Am allerliebsten ist sie in den Bergen - im Sommer auf größeren Wanderungen und im Winter beim Snowboarden.